Ein bisschen Theorie

"Was ist Geheimnis, und was ist Nebel?"

Katja Spiess, Leiterin des Figurentheaterzentrums Stuttgart und Mitherausgeberin des Theatermagazins "double", im Gespräch mit Tristan Vogt und Joachim Torbahn über Dramaturgie im Figurentheater


Gibt es in Eurer Theaterarbeit etwas, was Ihr als dramaturgische Grundfragen bezeichnen würdet?

Tristan Vogt: Ja, sicher. Jede neue Produktion ist ja eine Art Entdeckungsreise. Zunächst folgt man einfach seiner Abenteuerlust. Aber irgendwann wird man unruhig und will wissen, wohin die Reise überhaupt geht und auf welchem Kurs und wie man den halten kann. Und da drängen sich als Navigationshilfe bei uns immer wieder dieselben Fragen auf: Was ist eigentlich die zentrale „Figur“? Was ist ihre Sehnsucht? Und was wird schließlich aus ihrer Sehnsucht? Wenn in einem Stück da keine Entwicklung spürbar wird, hinterlässt das, finde ich, immer ein schales Gefühl.

Aber wie erklärt sich dann eine Inszenierungsstruktur wie die der „Zwerge“? Besteht der Reiz dieses Stückes nicht gerade darin, dass sich alles im Kreis dreht, dass sich nichts verändert?

TV: Ja, das stimmt. Der Autor Fitzgerald Kusz bestand auf dem „Rondo-Charakter“ des Stücks, denn „der Franke bewegt sich nicht, der tritt auf der Stelle.“ Aber wir hatten das Gefühl, der Stillstand ist nur reizvoll, wenn hinter ihm doch eine große Sehnsucht steckt, die halt immer wieder scheitert. Eine verzweifelte Sehnsucht nach Ausbruch und Aufbruch. Und als letzter großer Aufbruch bleibt nur der Tod. So entstand die Idee, dass die „Zwerge“ zuletzt beim Schlafengehen ihre Masken ablegen, unter denen die Totenschädel hervorkommen...

Joachim Torbahn: Ich glaube, unser Katharsis-Begriff ist weniger psychologisch, als emotional zu verstehen. Das kann z. B. im Maltheater auch eine scheinbar abstrakte „Figur“ betreffen wie unser „Kleines Rot“, das ja zunächst nicht mehr als ein Bildelement ist. Wenn dieses aber Interesse beim Zuschauer hervorrufen soll, dann muss es sich zur Identifikation anbieten, und das heißt, zur emotionalen Anteilnahme einladen. Das funktioniert aber nur, wenn mit diesem „kleinen Rot“ etwas passiert, wenn es sich wandelt und verändert. Die Momente von Auflösung, Zerstörung und Wandlung sind hier ganz wesentlich.

TV: Joachim und die Regisserin Ruta Platais gingen bei diesem Projekt ja ganz bewusst erst einmal nicht von einer Geschichte aus, sondern von der Faszination an malerischen Prozessen. Da war es wichtig, zunächst unzensiert alles zuzulassen, was fasziniert. Aber danach folgte der dramaturgische Blick: Welche der gefundenen malerischen Vorgänge berühren uns und warum? Wie lassen sie sich zu einer emotionalen „Geschichte“ verbinden?

JT: Gerade als Figurenspieler hat man ja oft die Tendenz, sich in ein Material, einen bildnerischen Einfall zu verlieben – unabhängig davon, ob dieser Einfall im Sinne einer Geschichte etwas Wichtiges und Stimmiges erzählt. Da braucht es immer wieder den analytischen Blick von außen, quasi als „Anwalt des Publikums“..

Aber ist das nicht auch gefährlich? Kann es da nicht passieren, dass von vorn herein viel zu restriktiv im Sinne von publikumskompatibel gedacht wird?

TV: Das wäre schade. Ein Dramaturg sollte immer zugleich und besonders auch ein „Anwalt“ der Sehnsucht des Produktionsteams sein, der mithilft, unbewusste Themen, die in der Inszenierung stecken, zu entdecken und herauszuarbeiten. Im „Kleinen Rot“ z.B. verbarg sich eigentlich eine Schöpfungsgeschichte. Die galt es dann herauszuschälen und zu verstärken.



Gibt es etwas, das ihr als spezifische Aufgaben eines Dramaturgen im Puppen- und Figurentheater beschreiben könntet?

JT: Ich denke, eine besondere Aufgabe in unserem Genre ist es, eine Inszenierung auf die Konsequenz ihrer Ausdrucksmittel hin zu überprüfen. Was erzählt eine bestimmte Spielform, ein Bild, ein Material, eine Animations-Technik? Das wird von Regie-Kollegen anderer Sparten häufig unterschätzt. Da werden z. B. an Opernhäusern die Riesen im „Rheingold“ mit gigantischen Marionetten besetzt. Die sind dann aber als Material durch ihre Größe schlicht nicht mehr beherrschbar und erzählen letztlich das Gegenteil von der geplanten Absicht: Statt besonders bedrohlich wirken sie eigentlich besonders hilflos. Und solche Material-Irrtümer sind nicht selten …

TV: Eine Phase des Ausprobierens und Herumspielens mit Material und seine dramaturgische Befragung kommt an Stadt- und Staatstheatern praktisch nicht vor. Räume und Effekte werden Monate vor Probenbeginn am Tisch geplant, Bauproben finden ohne die Spieler statt. In solchen Organisationsstrukturen können innovative und konsequente Figurentheater-Mittel schwer entstehen.

Nun ist nicht jeder Regisseur zwangsläufig ein guter Dramaturg. Bräuchte es daher nicht viel mehr Dramaturgen – im Sinne einer ganz klaren Aufgabenstellung – im Figurentheater?

JT: Ich glaube nicht, dass es hier unbedingt um ein spezifisches Berufsfeld geht, eher um einen spezifischen Blick. Ein Dramaturg, der kein Gespür für Material, Bilder und Rhythmus hat, wird mit einem Regisseur ohne dramaturgischen Instinkt keine gemeinsame Arbeitsgrundlage finden. Das lässt sich für mich nicht trennen.

TV: Das Wichtigste finde ich die Fähigkeit zum „naiven Blick“, zu einem geradezu körperlichen Unbehagen, wenn auf der Bühne etwas nicht „stimmt“. Und zur instinktiven Begeisterung, wenn etwas „sitzt“.

JT: Die Reflexion kommt ja eigentlich erst danach, und auch die dramaturgische Neugier, warum mich etwas eigentlich so begeistert oder ärgert. Ohne so einen Instinkt besteht schon die Gefahr, dass eine szenische Lösung nur „ausgedacht“ bleibt und gar nichts oder das Falsche erzählt, wie im Beispiel der hilflosen Riesen-Marionetten.

TV: Übrigens, finde ich, hat auch das Publikum ein Recht auf „Naivität“. Mit Wolfgang Hildesheimer frage ich mich als Zuschauer schon oft: „Was ist Geheimnis und was Nebel?“ Was berührt mich, auch wenn es mir ein Rätsel bleibt, und was lässt mich kalt, auch wenn es bedeutungsschwanger daherkommt? Aber dafür gibt es sicher kein Patent-Rezept.

Als Vermittler zum Publikum sind im Figurentheater ja sogenannte Erzählerfiguren weit verbreitet. Sind diese nicht auch Ausdruck einer dramaturgischen Schwäche des Figurentheaters und wie haltet ihr selbst es mit ihnen?

JT: Ich denke, man muss unterscheiden ob man einen Erzähler bemüht, weil man szenisch nicht weiterkommt – das ist dann wirklich schwach - , oder aber ob man als Erzähler vor allem die Spielregeln einführt und für die Zuschauer nachvollziehbar macht. Ich mag z.B. keine „Ausstattung“, die einfach da ist und etwas „bedeuten“ soll. Ich hab es lieber, wenn die Bedeutung erst im Spiel entsteht, also durch den Erzähler verliehen wird.

TV: Kinder trauen sich im Theater noch zu fragen: „Mama, was macht der da?“ Sie haben absolut recht! „Psst! Ich mach Kunst!“ reicht als Antwort eben nicht. Warum soll man nicht im Figurentheater von der realen Situation ausgehen: Da ist jemand auf der Bühne und da sind Leute, die schauen ihm zu. Und das Wunder des Theaters entsteht, weil der Spieler vor aller Augen die Mittel einführt, verwandelt und zum Leben erweckt. Warum so tun, als wäre er nicht da? Er ist der „Erzähler“. „Was macht der da?“ finde ich eine der schönsten Fragen.



Um zum Schluss nochmal eine der von euch aufgestellten Regeln mit der Praxis zu konterkarieren: Ist es nicht so, dass die von Euch proklamierte Wandlung in vielen Eurer Stücke scheitert bzw. in der Katastrophe endet?

TV: Ja, da ist was dran, zumindest bei den Abendstücken. Das ist bei uns so ein Instinkt: Unsere „Helden“ haben eine Sehnsucht, diese Sehnsucht erfüllt sich und gerade in der Erfüllung erkennen sie ihr Scheitern. In „Wagners Ring“ wünscht sich der Fernseh-Moderator einen Opernabend mit echten Göttern und an Original-Schauplätzen. Und weil er in die Götter-Welt eintritt, geht er mit ihr zugrunde. In „Macbeth für Anfänger“ träumt Kasper davon, ein tragischer Held zu sein und reißt, indem er es wird, alle mit sich in den Abgrund. Der Held glaubt, wenn sein Traum in Erfüllung geht, glücklich zu werden, und in der Erfüllung muss er erkennen: Ganz im Gegenteil! Also eine Wandlung findet schon statt, nur nicht die naiv erhoffte.
Erschienen in "double" 2/2005